Der Endowment-Effekt im Unternehmen: Warum wir an eigenen Ideen festhalten – und wie wir den Denkfehler überwinden
- Siegbert Weissbrodt
- 18. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. März

Kontext
Man kennt es: Im Meeting liegt eine brillante neue Lösung auf dem Tisch – und trotzdem beharrt jemand stur auf dem eigenen alten Vorschlag. Warum? Die Antwort liefert ein psychologisches Phänomen namens Endowment-Effekt (Besitztumseffekt). Es besagt, dass wir Dinge höher bewerten, nur weil sie uns gehören. Ein Objekt, eine Idee oder ein Plan erscheint uns automatisch wertvoller, wenn wir selbst der Urheber sind.
Führungskräfte etwa neigen dazu, ihre eigenen Projekte und Vorschläge allein deshalb zu überschätzen, weil sie von ihnen selbst initiiert wurden. Anders ausgedrückt: Wir verlieben uns in unsere eigenen Ideen – selbst wenn objektiv bessere Alternativen existieren.
Psychologen Richard Thaler und Nobelpreisträger Daniel Kahneman beschrieben diesen Effekt erstmals in den 1980ern. In klassischen Experimenten zeigte sich beispielsweise, dass Menschen, die eine einfache Tasse geschenkt bekamen, einen deutlich höheren Preis dafür verlangten, als sie selbst dafür bezahlen würden – nur weil die Tasse nun „ihnen gehörte“. Verlustaversion spielt dabei eine große Rolle: Wir fürchten den Verlust des Bestehenden stärker, als wir den Gewinn einer neuen Option begrüßen. Dieses Prinzip geht weit über materielle Güter hinaus. Der Endowment-Effekt bindet uns an Gewohnheiten, Meinungen und sogar an alte Versionen von uns selbst. Deshalb fällt es uns im Arbeitsalltag so schwer, liebgewonnene Ideen oder Vorgehensweisen aufzugeben – sie fühlen sich fast wie ein Teil unserer Identität an.

In Unternehmen kann dieser Denkfehler zum Bremsklotz werden. Wer an der eigenen Idee klebt, übersieht leicht innovativere Vorschläge anderer. Das hat Folgen für Führung, Wandel und Innovation.
Beispiele aus der HR-Welt:
(1) Führungsentscheidungen und „Mein Projekt“-Syndrom: Führungskräfte sind nicht immun gegen den Endowment-Effekt – im Gegenteil. Hat ein Manager einen Plan ausgearbeitet, hält er oft daran fest, obwohl Fakten und Teamfeedback vielleicht längst dagegen sprechen. Externe Vorschläge oder kritische Stimmen werden abgewiesen, weil unbewusst die eigene Initiative als überlegen gilt. Die Folge: Wertvolle Beiträge des Teams werden ignoriert, Entscheidungen fallen suboptimal aus. Mitarbeiter spüren schnell, wenn immer die Idee des Chefs gewinnt – Frust und Kreativitätsverlust im Team sind vorprogrammiert. In der Innovationsentwicklung kann dieses „Mein Baby“-Denken dazu führen, dass an einem überholten Produktkonzept festgehalten wird, während Wettbewerber mit frischen Ansätzen vorbeiziehen.
(2) Change-Management: Liebe zum Altbewährten: Veränderungsprozesse scheitern oft an menschlicher Trägheit. Wir mögen vor allem, was wir kennen – Menschen sind zwar veränderungsfähig, aber nicht immer veränderungsbereit. Bestehende Abläufe und Strukturen werden überhöht, nur weil sie vertraut sind oder von den Beteiligten selbst aufgebaut wurden. Selbst wenn ein neues System oder eine neue Strategie klare Vorteile bringt, hält der Endowment-Effekt Mitarbeiter und Führungskräfte psychologisch am Status quo fest. Das Resultat: interne Widerstände gegen Change-Initiativen, weil jede Veränderung als Verlust des Bewährten empfunden wird. Dieser Bias erklärt, warum Teams häufig an ineffizienten Prozessen festhalten – lieber das bekannte (wenn auch fehlerhafte) Verfahren beibehalten, als etwas Unbekanntes auszuprobieren.
(3) Hiring-Prozesse und Talent Management: Selbst im Personalwesen spielt der Endowment-Effekt hinein. Entscheider neigen dazu, vertraute Kandidaten oder interne Mitarbeiter zu bevorzugen und externe Talente zu unterschätzen. Ein Beispiel: Eine Führungskraft besteht auf ihrem internen Kandidaten für eine Stelle, weil sie diesen „kennt“, während ein externer Bewerber mit besseren Qualifikationen beiseitegeschoben wird. Die vermeintliche Sicherheit der bekannten Person wird überbewertet – die Organisation verpasst womöglich die bessere Besetzung. Auf lange Sicht kann diese Verzerrung zu einer Homogenität in der Belegschaft führen: Immer die gleichen Profile werden eingestellt und befördert. Das mag komfortabel erscheinen, doch es stiftet ein Einheitsdenken. Vielfalt und frische Perspektiven bleiben aus, was die Innovationsfähigkeit des Unternehmens bremst. Gerade vor dem Hintergrund von Diversity-&-Inclusion-Bemühungen ist dieses Festhalten am Vertrauten kontraproduktiv.
Lösungsansätze: So überwinden Sie den Endowment-Effekt

Der Endowment-Effekt ist zwar tief in unserer Psyche verankert, aber im beruflichen Umfeld durchaus entschärfbar. Folgende Ansätze helfen, den „Das ist meine Idee!“-Reflex zu durchbrechen:
(1) Bias-Bewusstsein schaffen: Der erste Schritt ist Aufklärung. Machen Sie den Endowment-Effekt und andere kognitive Verzerrungen zum Thema – in Führungskräftetrainings, Workshops oder Teammeetings. Menschen reagieren viel offener, wenn sie wissen, dass ihr Gehirn ihnen gerade ein Schnippchen schlägt. Eine kurze Schulung zum Thema Unconscious Bias im HR-Kontext kann Aha-Erlebnisse auslösen. Wenn Führungskräfte verstehen, dass ihr Festhalten an eigenen Vorschlägen ein bekannter Denkfehler ist und kein Zeichen von Schwäche, sind sie eher bereit umzudenken.
(2) Perspektivwechsel einüben: Helfen Sie Entscheidern, aus ihrer eigenen Haut zu schlüpfen. Ein praktischer Tipp ist der Fremde-Blick-Test: Fragen Sie sich bei Ihrer nächsten Idee bewusst, ob Sie sie genauso toll fänden, wenn sie von jemand anderem käme. Dieser gedankliche Trick entlarvt schnell übertriebene Besitzansprüche auf Ideen. Ebenfalls effektiv: Benennen Sie in Meetings einen „Devil’s Advocate“ – jemanden, der die Aufgabe hat, jede Idee (auch die vom Chef) kritisch zu hinterfragen. Durch solchen advokatischen Widerspruch lernt man, den Vorschlag losgelöst von seinem Urheber zu bewerten. Auch externe Berater oder bereichsfremde Kollegen können diese Außenperspektive liefern und Betriebsblindheit abbauen.
(3) Entscheidungen objektivieren – Daten statt Ego: Etablieren Sie Prozesse, die Entscheidungen auf Faktenbasis lenken. Im Recruiting etwa helfen strukturierte Auswahlverfahren: zum Beispiel standardisierte Interviews mit festgelegten Bewertungskriterien, um die Bewerber fair zu vergleichen. Solche objektiven Raster zwingen uns, jenseits persönlicher Vorlieben zu bewerten. Allgemein sollten für wichtige Projekte im Voraus klare Erfolgskriterien definiert werden. Erreicht ein Projekt diese Meilensteine nicht, muss es in Frage gestellt werden – egal, wer die Idee ursprünglich hatte. Diese Art von Exit-Strategie nimmt den emotionalen Druck, an liebgewonnenen Initiativen um jeden Preis festzuhalten. Zahlen, Daten, Fakten helfen, den Endowment-Effekt zu entzaubern: Wenn die neue Alternative nachweislich bessere Ergebnisse bringt, wird der Abschied von der eigenen Idee leichter.
(3) Kultur der Offenheit und des Widerspruchs fördern: Schaffen Sie im Unternehmen ein Klima, in dem gegenseitiges Challengen positiv besetzt ist. Ideen sollten diskutiert werden können, ohne dass sich jemand persönlich angegriffen fühlt. Hier sind vor allem Führungskräfte gefragt, mit gutem Beispiel voranzugehen: Laden Sie Ihr Team aktiv ein, Ihre Vorschläge zu kritisieren. Belohnen Sie sogar, wenn jemand einen Fehler in Ihrem Plan findet – das signalisiert, dass die beste Idee gewinnt, nicht die Hierarchie. Diese psychologische Sicherheit im Team ist entscheidend, damit Mitarbeiter sich trauen, „heilige Kühe“ zu schlachten. Regelmäßige Retrospektiven oder Feedback-Runden, in denen man gemeinsam prüft, was man vielleicht loslassen sollte, können helfen, den Endowment-Effekt Schritt für Schritt abzubauen.
Fazit
Der Endowment-Effekt hält uns spiegelbildlich vor, wie emotional Entscheidungen selbst in der Business-Welt sein können. Doch Unternehmen müssen nicht in der „Das war schon immer mein Ansatz“-Falle steckenbleiben. Mit Bewusstsein, Offenheit und klaren Prozessen lässt sich dieser Denkfehler entschärfen. Wenn Führungskräfte und Teams lernen, Ideen als das zu sehen, was sie sind – Vorschläge und nicht Besitzstücke – gewinnt am Ende die beste Lösung. Und genau das bringt Unternehmen voran.
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